In der Februar-Ausgabe (Nr. 38) des Münchner Feuilletons ist erschienen: Entsagung über Bande, eine Rezension von Jonathan Franzens The Kraus Project (2013).
Entsagung über Bande
Ende 2014 machte ein sonderbares Buch die Runde durchs Feuilleton: Das Kraus-Projekt von Jonathan Franzen. Vielleicht ist es ein neuer Roman.
Ein junger, gut situierter US-Amerikaner, der Schriftsteller werden will, trennt sich von seinen Eltern und von einer selbst auferlegten Verlobten, um in Deutschland zu studieren und ihr zu schreiben. Von allen Briefen, überhaupt von allem Geschriebenen behält er Durchschläge. Ihn treibt um, was 22-Jährige in einem Bildungsroman um 1980 umtreibt: Selbstfindung, Identität und Traditionswahl, Wirkung und Größenwahn, Politik samt Atomkrieg, Moral und Sexualität. Auslöser der Krise ist die Untreue der fernen Frau – die Briefantwort führt zu einem Schreibzusammenbruch. Der Versuch einer erotischen Retourkutsche scheitert an der beharrlichen Entsagung des Protagonisten, erzeugt aber eine starke Emotion: Zorn – in der Schlüsselszene steht der Ich-Erzähler auf dem Bahnsteig und schleudert Kleingeld zu Boden, bevor der Zorn einen Namen und der zornige junge Mann einen Ersatzvater bekommt: Karl Kraus. So kehrt der Amerikaner zurück nach Amerika, heiratet seine Verlobte und sie leben nicht glücklich bis zur Scheidung, indem der Mann beginnt, zwei Kraus-Texte ins Englische zu übersetzen: Heine und die Folgen sowie Nestroy und die Nachwelt, eine Arbeit, die sich mit Kommentar von 1983 bis Herbst 2012 erstreckt.
Das ist nicht das Ende der Geschichte, aber vor dem Ende ist wichtig, wo sie erzählt wird: im Anmerkungsapparat zu eben diesen Übersetzungen (welche, sonderbar, die deutschsprachige Ausgabe komplett unterschlägt). Dort schleicht die Narration sich ein, bruchstückhaft, zuerst in der Deckung der literatur- und geistesgeschichtlichen Texterläuterungen Paul Reitters (Ohio State University) und der unbekümmerten Korrespondenzbeiträge Daniel Kehlmanns (Wien), dann offen mit der Szene auf dem Bahnsteig und sich weiten Raum greifend; sie streut ihre Entwicklung ein, nutzt Kraus als Vor- und Vorhersager und verwertet das Material der eigenen Durchschläge zum Briefroman. So stellen Kraus und seine Übertragung ebenso das Ziel vor als auch den Weg dorthin, und der Raum ihrer Gedankenwelt ist zugleich die Erzähl- und Gedankenwelt Franzens. Jedes Wort, ob in den Fußnoten, im Original oder in der Übersetzung trifft über Sprache, Raum und Zeit hinweg die historische Vorwelt ebenso wie Twitter-Nachwelt. Das funktioniert, aber der Aufwand ist übergroß – auch aufseiten des Lesers.
Kraus gab seinen erneuten Heine-Drucken einmal ein Nachwort und einmal ein Schlusswort mit; auch diese Texte schließen sich mit Übertragung bei Franzen an, um die Frage aufzuwerfen, wie die eigene Argumentation in neuen Zeiten neu zu positionieren sei. Hier erfahren wir, wie die Geschichte ausgeht: Der Protagonist lädt seinen Zorn als Übersetzung bei seinem wiederentdeckten Universitätsvater ab (George Avery, dessen Andenken das Buch gewidmet ist), befindet, dass Erzähltexter ihren Lesern auf Dauer ohnehin nicht böse sein können, und gelangt zu dem schalen Schluss, dass jede Zeit über Werteverlust klagen könne. Für einen, der auszog, der beste Schriftsteller der Welt zu werden, ist das eine insgesamt recht erfolgreiche Entsagung.
Der letzte Text ist das Gedicht Man frage nicht, Ausdruck des öffentlichen Verstummens im Angesicht des Nationalsozialismus. Hier hat sich Franzen bereits still und leise aus dem Apparat gestohlen; er spricht nurmehr durch den Abdruck Kehlmanns. Wir machen mit, nun schon geübt, und übersetzen, dass es dem Erzähler mit Kraus gelungen ist „sein eigenes Schweigen in Worte zu fassen“.
Das Kraus-Projekt. Aufsätze von Karl Kraus mit Anmerkungen von Jonathan Franzen. Unter Mitarbeit von Paul Reitter und Daniel Kehlmann. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2014. [The Kraus Project. Essays by Karl Kraus. Translated and annotated by Jonathan Franzen with assistance from Paul Reitter and Daniel Kehlmann. A bilingual edition. New York: Farrar, Straus and Giroux 2013.]