Sudetenland 4/2017 und † Lubomír Doležel

Rechtzeitig vor Weihnachten ist die Sudetenland-Ausgabe 4/2017 erschienen. Zuerst geht es diesmal um Troppau/Opava, Wien und Darmstadt: Joseph Maria Olbrich ist der Schwerpunkt, zu dem Bärbel Herbig, Renate Charlotte Hoffmann, Franz Smola und Jindřich Vybíral Lesenswertes beigetragen haben. Auch Hansjürgen Gartner greift in der Rubrik Kunst und Kontext das Thema Olbrich im Zusammenhang mit Ornament und Verbrechen (so der von Adolf Loos geborgte Titel) auf.

Empfohlen sei außerdem das zweite Thema: Deutsche Sprache in Tschechien. Dazu gehört ein großer Gesamtüberblick, den sich Jan Čapek, Knuth Noke und Martin Dzingel teilen, sowie ein feiner Essay von Till Janzer, der aus eigener Erfahrung schildert (Verböhmeltes Deutsch), was passiert, wenn deutsche Muttersprachler sich unvermutet vom Tschechischen anstecken lassen.

Aus den Kaffeehäusern Mitteleuropas berichtet Jurko Prochasko vom (neuen) Atlas in Lemberg/Lwiw, Johanna Anderka hat Prosa beigesteuert, und Eduard Schreiber hat aus den Curricula von František Listopad, der 2017 verstorben ist, übersetzt. Die Rubrik Orte der Vermittlung ist im letzten Heft des Jahres ein Heimspiel: im Haus des Deutschen Ostens in München.

In der Karikaturkolumne hat sich Jozo Džambo den „Kleiderkampf auf dem Hradschin“ vorgenommen und zeichnet die illustrierte Geschichte von 1901 nach, als Bürgermeister Srb nicht im Frack, sondern nur in der Tschamara vor dem Kaiser erscheinen wollte. Džambo hat in diesem Heft außerdem Karl-Markus Gauß’ 20 Lewa oder tot rezensiert und den Glückwunsch für Peter Demetz zum 95. Geburtstag verfasst. Ebenfalls im Heft: Der Einer-Kanadier, ein Nachruf auf den großen tschechischen Weltliteraturwissenschaftler Lubomír Doležel (1922–2017), den hierzulande kaum jemand kennen mag. Selber schuld. Hier ist er:

Der Einer-Kanadier

Im Ausgang des 20. Jahrhunderts, als das Lyrik-Kabinett gerade bei den Komparatisten im Keller der Schellingstraße 3 im Exil war, kam Lubomír Doležel nach München, um im Raum nebenan ein Seminar über fantastische Literatur zu halten. Wir Germanisten fanden sonst so gut wie nie in diese Gegend. Ich selbst kam eher, um mir eine Legende zu besehen: den letzten großen Vertreter der Prager Schule, wie eine Reliquie seiner Epoche, eben wie jemanden, der bei Bohuslav Havránek und Felix Vodička in den Seminaren gesessen und leibhaftig mit Jan Mukařovský umgegangen war. Es dauerte eine ganze Zeit, bis ich mich damit abfand, dass Doležel sehr lebendig und uns sehr viel näher war, als wir es von seiner Generation gewohnt waren; dass er Englisch sprach und uns abends zum Bier in seine Gastdozentenwohnung im Innenhof einlud.

Wie lebendig Doležel war, hätten wir der Auswahlbibliografie entnehmen können: Dort war bereits seine Geschichte der strukturalen Poetik angekündigt, die deutsche Ausgabe („Erscheinen unbestimmt“) seiner Heterocosmica erschien dann noch 1999. Hierzulande fand sie, anders als im englischen Sprachraum, kaum Widerhall. Dabei wäre, nur ein Beispiel, aus den Heterocosmica heraus der Umgang mit Nullpositionen hervorragend rational begründbar. Das Werk bleibt allen dringend anzuraten, die einen vernünftigen Umgang mit Literatur anstreben.

Dass man zuerst das Literaturverzeichnis aufschlägt und sich dort ansieht, welche Pappenheimer vertreten sind, dass man auf den ersten eineinhalb Seiten eisern entscheidet, ob die weitere Lektüre überhaupt lohnt – das gefiel uns sehr. Ein wacher, alter, harter Hund, dachten wir. Wir sahen, wie souverän er beobachtete und urteilte, und beneideten ihn darum. Dabei verstand es Doležel wie nur wenige, streitlustig im besten Sinne, sich in der Auseinandersetzung mit Positionen und Argumenten ‚in den Umkreis der Stärke des Gegners‘ zu stellen, und wir staunten darüber, wie er Umberto Eco als seinesgleichen behandelte. Man braucht ihn nur aufzuschlagen: Jedes Problem, das Doležel anfasst – von der Erzählsituation und ihrer Systematik bis zu möglichen Erzählwelten – darf man als adäquat formuliert nehmen und hat alles zur Hand, um die Lösung nachzuvollziehen. So gibt er seinen Schülern und Lesern stets das gereinigte (mitunter sogar reparierte) Werkzeug für die eigene Arbeit die Hand.

Lubomír Doležel, der große Stukturalist und Literaturtheoretiker, Linguist, Philosoph, Logiker und einer der Ersten, die mathematisch-statistische Verfahren auf Literatur anwendeten, wurde am 3. Oktober 1922 in Lesnitz/Lesnice geboren. Das Gymnasium in Hohenstadt an der March/Zábřeh musste er abbrechen, als die Deutschen kamen und die tschechischen Schulen schlossen; seine Eltern schickten ihn dann über die Grenze nach Littau/Litovel. 1944 wurde er aus dem Widerstand heraus verhaftet und war ein Jahr lang in der Kleinen Festung Theresienstadt/Terezín gefangen, später in Zwickau und Breslau. Nach dem Krieg studierte er in Prag an der Karls-Universität und machte dort 1958 seinen PhDr. 1965 kam er als Gastprofessor nach Ann Arbor an die University of Michigan, und als er 1968 zurückkehrte (an die Akademie der Wissenschaften), fand sein Fortkommen in der Tschechoslowakei abermals ein frühes Ende, diesmal mit der Niederschlagung des Prager Frühlings. So kam er nach Kanada an die University of Toronto, wo er maßgeblich das Tschechischstudium aufbaute, zuerst vorwiegend für junge Exiltschechen: „Wir wussten nicht recht, was wir ihnen beibringen sollten. Tschechisch konnten sie, also konzentrierten wir uns vor allem auf Literatur, die sie nicht kannten, oder auf tschechische Sprachlehre, die sie nicht kannten.“ Zu Hause wurde er unterdessen in Abwesenheit verurteilt, sodass er lange Jahre nicht zurückkehren konnte. 1982 wurde er Professor am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft, und noch nach seiner Emeritierung 1988 war er als Gastdozent in den USA und in Europa unterwegs. Erst 2009 ging er zurück nach Tschechien, wurde dort 2010 mit dem Gratias-Agit-Preis ausgezeichnet und 2013 mit der Ehrendoktorwürde der Palacký-Universität Olmütz/Olomouc; dem 2011 gegründeten Brünner Narratologiering/Brněnský Naratologický Kroužek stellte er sich als Ehrenvorsitzender zur Verfügung. Zu Jahresbeginn 2017, am 28. Januar, starb Lubomír Doležel in Verona, mitten in der Arbeit.