Ein Mendelssohn-Missonswerk

Der Adam-Gumpelzhaimer-Chor gab im Musiksommer zwischen Inn und Salzach einen großartigen Endorfer Paulus.

„Es ist gut, wenn sie so bleiben wie ich“, sagt Paulus (1 Kor 7,8), nämlich ehelos. Dennoch musste er sich am 22. Juli zuerst mit einer Ehe abfinden, die in St. Jakob geschlossen wurde. Die Hochzeitsgesellschaft stand vorne noch auf der Treppe, als die Musiker schon durch den Seiteneingang schlichen, um sich für Mendelssohns Paulus zu rüsten.

Es sollte ein denkwürdiger Abend werden – auch weil Chor- und Gesamtleiter Wolfram Heinzmann sich nicht scheute, dem großen Oratorium noch die Prayers without words (Gebete ohne Worte, 2003) von Laurence Traiger voranzustellen. Der anwesende Komponist selbst sprach in Bad Endorf die einleitenden Worte dazu, vom Arbeitsbeginn am Chiemsee bis zur jüdisch-theologischen Dimension der reinen Vokalvertonung: „Konsonanten sind menschlich, Vokale sind göttlich.“ Insofern gehen beide, Traiger und Mendelssohn, die schwierige Aufgabe der musikalischen Präsenz Gottes an. Bei Traiger ergibt das die sehnsuchtsvoll aufgewühlte Doppelseele zweier Soloviolinen (Konzertmeister Alexander Krins und Anna-Lena Mayer) gegenüber einem Chor, der sich vom mönchisch-dunklen U bis zum A öffnet. In der großartig klaren, tiefenscharfen Akustik von St. Jakob spannten diese Zwiesprachen einen schier himmelweiten Klang- und Gebetsraum auf. Wem Schauer über den Rücken etwas wert sind, dem war klar: Hier kann Bekehrung geschehen. Dieselbe Gänsehaut kam später auf die Hörer, als die Frauenstimmen aus dem Chor Saulus riefen: „Was verfolgst du mich?“

Darin sind sich Traiger und Mendelssohn einig: dass die Musik wirke; nicht nur erhebe, sondern geradezu leiblich anfasse. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis der Adam-Gumpelzhaimer-Chor das Paulus-Oratorium (op. 36, 1836) aus dem Repertoire holen und wieder zu Gehör bringen würde. Schon bei der Aufführung 2009, noch unter Heinzmanns Vorgänger Michael Anderl, hatte Klaus Reiter die Basspartie übernommen. Es ist in diesen Rezitativen ganz zu Hause, so selbstverständlich unangestrengt, so klar artikuliert – das ist besser kaum zu machen (aber oft anders zu hören) und spielt sehr gut mit Bonko Karadjovs souveränem, beweglichen Tenor zusammen. Beide nehmen sich mehr als Bibelwort denn als Figurenrolle und vertrauen Pathos und Emotionen der Musik an. Dass dies richtig ist und funktioniert, war ebenso vorbildlich bei den letzten Worten Stephanus’ (Karadjov, Nr. 9) zu hören wie bei Saulus’ Verfolgungswut (Reiter, Nr. 12). Eva Maria Amanns Sopran geht in den Arien deutlich stärker in die Spitzen und konturiert stärker, in vollen Bögen beim groß (an-)klagenden „Jerusalem!“ (Nr. 4), in schön betonter Absetzung etwa bei Nr. 27. Auf diesem Niveau kann der Gumpelzhaimer-Chor die Kleinpartien sogar aus eigenen Kräften besetzen: Bei den falschen Zeugen kam Hans-Joachim Bernhart dazu, bei den Soli Nr. 29 Gabriele Unterhuber.

Die ganz großen Rollen hat Mendelssohn-Bartholdy ohnedies anderen vorbehalten. Wo er uns das Wasser in die Augen treibt, Weckrufe ergehen lässt, uns erbeben lässt und Triumphbögen baut, sind es Chor, Orchester und Orgel (Sonja Kühler), die hoch zu loben sind. Das ist nicht das übliche Unbehagen der Moderne an der Romantik, aus dem sie sich in die Ironie flüchtet. Im Gegenteil: Das offene Geheimnis dieses Chors und Orchesters, die Kunst, die Wolfram Heinzmann mit Alexander Krins vorantreibt, besteht darin, die Musik werden zu lassen, was sie will: eine heilige Lust wirklich zu sein, in die Vollen zu gehen, leise zu überwältigen, um anzurühren, anzustoßen, mitzunehmen. Paulus will so gesungen werden, dass man aufsteht und sich zur Heiligkeit begabt sieht. Die Trostberger sind davon gar nicht weit entfernt. Anhaltender reicher Applaus, untermischt mit Jubelrufen für alle und Einzelne, Laurence Traiger inbegriffen, dankte zu Recht diesem Bekehrungswerk.